Über Autismus
Klicken Sie auf die Überschriften, um mehr zu erfahren.
Autismus-Spektrum-Störungen sind "tiefgreifende Entwicklungsstörungen" und gekennzeichnet durch komplexe Störungen des zentralen Nervensystems, die sich schon im frühen Kindesalter bemerkbar machen.
Diese zeichnen sich darüber hinaus durch qualitative Besonderheiten in den Bereichen
- Kommunikation,
- Soziale Interaktion und
- Repetitive Verhaltensweisen
- Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung aus.
Dadurch sind Menschen mit Autismus in unterschiedlichster Weise beeinträchtigt, mit ihrer Umwelt in eine wechselseitige Interaktion zu treten:
Es gibt schwer betroffene Menschen mit Autismus, die keine oder nur wenig verbale oder non-verbale Ausdrucksmöglichkeiten haben und auch im Erwachsenenalter eine Vollzeitunterstützung benötigen. Am anderen Ende des Spektrums finden sich Menschen mit nur leichten Einschränkungen im sozialen Bereich, die aber ein selbständiges Leben führen können.
Der Übergang vom Autismus-Spektrum zur "Normalität" ist fließend, d.h. hier ist der Autismus als Variante im Bereich der sogenannten "Neurodiversität" zu verstehen. Das bedeutet, dass neurologische Unterschiede und deren Ausprägung wie andere Variationen von Persönlichkeitsmerkmalen angesehen und respektiert werden sollten. Personen, die nicht zum Autismus-Spektrum gehören, werden deshalb als "neurotypisch" bezeichnet.
Aktueller Stand
Derzeitige Grundlage der Diagnose sind die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen Diagnosemerkmale der ICD-10-GM. Die ICD-10-GM (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (engl. Diseases) und verwandter Gesundheitsprobleme, (10. Revision, German Modification) ist ein diagnostisches Klassifikationssystem. Autismus-Spektrum-Störungen sind den (tiefgreifenden) Entwicklungsstörungen zugeordnet, die kognitive, emotionale, soziale, sprachliche und motorische Beeinträchtigungen umfassen.
Es werden folgenden Formen unterschieden:
- der Frühkindliche Autismus
- das Asperger-Syndrom
- der Atypische Autismus
Zukünftige Klassifikation
In Vorbereitung ist die ICD-11 (Erscheinungsdatum 2018), die voraussichtlich eine andere Zuordnung und Einteilung der autistischen Symptomatik vornehmen wird. Es ist wahrscheinlich, dass dann nur noch von einer Autismus-Spektrum-Störung mit unterschiedlichen Schweregraden gesprochen wird. Die Kategorien Interaktion und Kommunikation werden zusammengefasst, die Verhaltensbesonderheiten bleiben als Kategorie bestehen und den Besonderheiten der sensorischen Wahrnehmung wird eine Extra-Kategorie gewidmet.
Dies wird voraussichtlich analog zu dem vom amerikanischen Psychiatrieverband herausgegebenen Diagnostischen und Statistischem Manual (DSM-5, 2014) erfolgen (Freitag C, 2014).
Der Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) wird allerdings schon seit längerem als Oberbegriff für das gesamte Spektrum autistischer Störungen verwendet, da die Unterscheidung in der Praxis nicht immer leicht zu treffen ist und auch diagnostische Studien dafür sprechen, dass die verschiedenen Ausprägungen auf einem gemeinsamen Autismus-Spektrum einzuordnen sind (Noterdaeme, 2011). Wir bevorzugen, von Autismus oder Autismusspektrum zu sprechen.
Menschen mit Autismus-Spektrum sind individuelle Persönlichkeiten, die in ihrer sozialen Interaktion, Kommunikation, im Verhalten und der Wahrnehmung vieles gemeinsam haben. Eine Zuordnung zu einem Klassifikationssystem beinhaltet leider immer eine Reduktion auf bestimmte Verhaltensaspekte und ist analog der klinischen Diagnostik immer „Defizit“-orientiert.
Im Folgenden sind diagnostische relevante Verhaltensweisen aufgelistet, die sich an den diagnostischen Kriterien für den Frühkindlichen Autismus orientieren.
Autismus-Spektrum
Menschen im Autismus-Spektrum
zeigen in der sozialen Interaktion
- Schwierigkeiten, altersgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen und gemeinsame Spielaktivitäten zu gestalten
- geringeren oder auch fehlenden Einsatz non-verbaler Verhaltensweisen zur Steuerung von Sozialkontakten (wie Blickkontakt, Mimik, Gestik) und sie verstehen diese Verhaltensweisen anderer oft nicht
- im Kontakt mit anderen, Schwierigkeiten, die Gefühle und Befindlichkeiten des Gegenübers einzuschätzen und zu berücksichtigen
- eine eher gering ausgeprägte Neigung, Freude, Interessen etc. mit anderen Personen zu teilen.
zeigen in der Kommunikation
- Auffälligkeiten in der Entwicklung des Sprachverständnisses und des Sprachgebrauches
- Schwierigkeiten, mit anderen Personen in einen wechselseitigen kommunikativen Austausch zu treten
- häufig einen stereotypen, zu Wiederholungen neigendem Sprachgebrauch (manchmal wie ein Echo) oder den Gebrauch einer individuell typischen Sprache
- ein eingeschränktes Imitationsverhalten, was Auswirkungen auf die Entwicklung des „So tun also ob”- Spiels und des nachahmenden Spieles hat.
- ein wortwörtliches Verstehen von Sprache. Dies erschwert das Verständnis von Redensarten oder Sprichwörtern.
Das Interessens- und Verhaltensspektrum ist geprägt durch
- eine exzessive Beschäftigung mit eingeschränkten Themen und Interessen (z.B. Dinosauriern, Werkzeugen, Rittern etc.) aber auch Beschäftigung mit für Kinder ungewöhnlichen Interessen wie Dampfturbinen, Wolkenbildung, Zahnarztstühlen, Türstopper etc.
- eine starke Neigung, bestimmte Tagesabläufe, Rituale oder Handlungsfolgen auszuüben, z.T. in zwanghafter Ausprägung und mit großer Irritation bei Unterbrechungen,
- sich vielfach wiederholende Bewegungen mit den Händen oder dem Körper (Beklopfen, flatternde oder wedelnde Bewegungen mit den Händen etc.)
- Aktivitäten, Spielmaterial in einer ungewohnten Form zu verwenden, dabei z.T. Orientierung an bestimmten Details der Spielgegenstände (Drehen der Räder an Autos, Wedeln mit Schnüren oder Bändern)
Besonderheiten in der Wahrnehmung
Neben den Eigenheiten in der sozialen Interaktion und im Verhaltensrepertoire haben Menschen aus dem Autismus-Spektrum große Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung und der Verarbeitung von Umwelt- und Sinnesreizen. Sie können z.B. Gefahren in der sie umgebenden Umwelt nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen, z.B. im Straßenverkehr. Es können gleichermaßen Unter- und Überempfindlichkeiten aller sensorischer Reize bestehen (Geräusch, Geruch, Hunger/Durst, Schmerz, Kälte/Wärme, Kleidung, ...). Sehr schnell können sie in die Situation einer Überladung mit Sinneseindrücken kommen, was zu Angst und Panik führen kann und ein zielgerichtetes Handeln nicht mehr möglich macht. Oder aber es ist eine ständige Suche nach bestimmten starken Reizen wie Druck oder Schmerz zu beobachten.
Diese Besonderheiten in der Wahrnehmung führen dazu, dass sich Menschen aus dem Autismusspektrum anders verhalten, als wir das gewohnt sind und erwarten. So kann es sein, dass sie oder er sich scheinbar abwendet, impulsiv oder unhöflich und ablehnend verhält. Dies ist nicht einem Desinteresse oder einer Feindseligkeit an sozialem Kontakt geschuldet, sondern kann darauf zurückzuführen sein, dass zu viele Sinneseindrücke in der aktuellen Situation eine Überforderung darstellen und sich der Mensch mit Autismus dieser Situation entzieht.
Frühkindlicher Autismus
Bei dieser Form des Autismus-Spektrums besteht eine Beeinträchtigung der Sprachentwicklung und oft auch der kognitiven Funktionen.
Unter dem Unterbegriff „High functionning Autismus“ (HFA) versteht man ein „hohes Funktionsniveau“ eines Menschen mit frühkindlichem Autismus. Manche Kinder weisen in ihrer frühen Kindheit die typischen Merkmale des frühkindlichen Autismus auf, entwickeln später jedoch die Fähigkeit, komplizierte Sätze zu sprechen, und bilden grundlegende soziale Fertigkeiten und normale intellektuelle Fähigkeiten aus. Als Jugendliche sind sie oft nicht mehr von einem Menschen mit Asperger-Syndrom zu unterscheiden.
Asperger-Syndrom
Bei dieser Form des Autismus-Spektrums bestehen oft keine Entwicklungsverzögerungen und die sprachliche und kognitive Entwicklung verläuft altersgemäß. Die Sprachentwicklung setzt früh ein, wirkt aber oft unkindlich und ungewöhnlich. Die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom besitzen eine normale allgemeine, in Teilgebieten manchmal besonders hohe Intelligenz. In der psychomotorischen Entwicklung und der sozialen Interaktion sind häufig schon im Kindesalter Auffälligkeiten festzustellen. Besonderheiten in der Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen und Sinneseindrücken treten auch bei Menschen mit Asperger-Syndrom häufig auf. Kinder mit Asperger-Syndrom werden oft nicht oder sehr spät erkannt und erhalten nicht selten erst im Jugendlichen- und Erwachsenenalter eine Diagnose (Lehnhardt et al. 2013). Sie schaffen es manchmal, sich aufgrund ihrer guten sprachlichen Kompetenzen und kognitiven Fähigkeiten in Kindergarten und Schule an die Anforderungen anzupassen auch wenn es sie sehr viel Kraft kostet. Viele durchlaufen aber auch die Schule als „unerzogene, impulsive oder aggressive oder auch depressive“ Schüler, die gemobbt und gehänselt werden und dadurch deutlich unter ihren Leistungen bleiben. Mit angemessenen Hilfestellungen und einer Akzeptanz der Besonderheiten dagegen sind gute Schul- oder auch Universitätsabschlüsse möglich.
Atypischer Autismus
Der Atypische Autismus unterscheidet sich vom Frühkindlichen Autismus durch einen späteren Beginn oder dadurch, dass die Symptomatik nur unvollständig vorhanden ist, d.h. es sind nur zwei von drei Symptombereichen (Kommunikation, Soziale Interaktion, Repetitive Verhaltensweisen und spezielle Interessen) vorhanden. Sensorische Besonderheiten können allerdings ebenfalls auftreten. Der Atypische Autismus steht häufig in Verbindung mit einer Intelligenzminderung, wird als Diagnose (leider) aber auch vergeben, wenn das Erscheinungsbild nicht ganz eindeutig ist.
Es gibt Kinder, die nicht oder sehr empfindlich auf sensorische Reize reagieren, die nicht lautieren, motorisch auffällig sind, kein soziales Lächeln haben oder / und sich sprachlich nicht oder langsam entwickeln. Das alles können Hinweise auf umschriebene Entwicklungsstörungen, Beziehungsstörungen und aber auch Autismus sein.
Auffälligkeiten im Säuglingsalter, die nur einer autistischen Variante zuzuordnen sind, gibt es nicht.
Bei Kleinkindern ab dem zweiten Lebensjahr wird empfohlen, bei folgenden Auffälligkeiten differentialdiagnostisch an Autismus-Spektrum zu denken:
- Mangelnder oder fehlender Blickkontakt
- Fehlendes oder verringertes Verfolgen der Blickrichtung einer anderen Person
- Seltene oder fehlende Zeigegesten
- Abgeschwächte oder fehlende Reaktion auf namentliche Ansprache
- Rückschritte oder Verlust bereits erworbener Fähigkeiten in Sprache oder Interaktion
- Wenn sich die Eltern Sorgen bzgl. der Entwicklung ihres Kindes machen
In diesen Fällen ist eine Diagnostik durch spezialisierte Fachleute zu empfehlen.
Entscheidend ist, dass das Kind in den Bereichen, in denen es sich nicht gut entwickelt, frühe Förderung erhält (Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie etc.) und seine Entwicklung im Verlauf beobachtet und beurteilt wird.
Weniger als ein Drittel der Kinder, die in den ersten Lebensjahren Entwicklungsauffälligkeiten zeigen, erhalten die Diagnose Autismus in den nächsten ein bis zwei Jahren.
Bei eindeutiger Symptomatik kann die Diagnose im Alter von zwei Jahren gestellt werden, bei uneindeutiger Symptomatik auch erst deutlich später. Vor der Einschulung sollte die Diagnose überprüft und durch eine mehrdimensionale Intelligenzdiagnostik ergänzt werden. Bei klinischer Indikation wird zusätzlich eine Entwicklungsdiagnostik, insbesondere der Sprachentwicklung empfohlen.
(Quelle: „Autismus-Spektrum-Störung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“, interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und DGPPN, 2016)
Leitlinien und Diagnosealter
Die Diagnostik von "Autismus-Spektrum-Störung" (ASS) ist sehr komplex und erfordert eine große klinische Erfahrung in diesem Bereich mit einem guten differential-diagnostischen Wissen und sollte unter Einbeziehung der für die Diagnostik geeigneten Instrumente durchgeführt werden.
Aktuell ist eine neue AWMF-Leitlinie (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) zur Diagnostik von Autismus-Spektrum im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter unter Leitung von Frau Prof. Freitag und Herrn Prof. Vogeley erstellt worden.
Eine sichere Diagnosestellung "Autismus-Spektrum" ist spätestens nach dem dritten Lebensjahr möglich. Wenn bei einem jüngeren Kind ein voll ausgeprägtes Bild von Autismus vorliegt, kann die Diagnose vergeben werden. In den ersten beiden Lebensjahren sollte man jedoch eher von einem Verdacht oder Risiko für die Entwicklung eines Autismus-Spektrums sprechen.
Diagnostischer Prozess
Um zu einer möglichst frühzeitigen Erkennung von Autismus zu kommen, sollte die Diagnostik in einem mehrstufigen Vorgehen erfolgen:
- Notwendig ist es, Risikokinder zu identifizieren. Für sehr kleine Kinder liegen keine empirisch abgesicherten Merkmale zur Vorhersage von Autismus vor. Wenn Auffälligkeiten bestehen oder Eltern sich Sorgen über die Entwicklung ihres Kindes zwischen dem 10. und 12. Lebensmonat (Zeitpunkt der U6) machen, sollte eine Kontrolle der Entwicklung im Alter von 18 Monaten erfolgen, ob die Auffälligkeiten weiterhin bestehen.
- Dann sollte das Kind mit einem für das Autismus-Spektrum geeigneten Screening-Instrument untersucht werden. Dafür bieten sich z.B. der Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK) an und für jüngere Kinder ab dem 2. Lebensjahr die M-Chat (Modified Checklist for Autism in Toddlers). Gibt es hieraus und aus Beobachtungen weitere Hinweise sollte der nächste Schritt erfolgen.
- Eine ausführliche Autismus-Diagnostik wird in den sogenannten "Goldstandards" beschrieben und beinhaltet eine ausführliche Anamnese (Diagnostische Interview für Autismus - revidiert (ADI-R)), eine Verhaltensbeobachtung mit der Beobachtungsskala für autistische Störungen (ADOS), Fragebögen und einer Verhaltensbeobachtung im sozialen Umfeld.
Bestandteil einer differentialdiagnostischen Abgrenzung zu anderen Störungsbildern ist die Abklärung anderer Störungsbilder, um sicherzustellen, dass die Diagnose Autismus korrekt ist und ggf. die Feststellung komorbider, begleitender Störungen. Die Diagnostik soll dann ermöglichen, eine Empfehlung für eine autismusspezifische Förderung und Unterstützung abzugeben.
Eine frühe und genaue Diagnostik sind wichtige Bausteine, um:
- Eltern früh auf die Besonderheit ihres Kindes vorzubereiten und damit auch zu helfen, die Besonderheiten des Kindes anzunehmen und Unterstützung für den Umgang mit dem Kind zu ermöglichen.
- Gezielte Frühfördermaßnahmen einzuleiten – je früher man beginnt, desto besser kann man ein Kind und seine Familie in der Entwicklung unterstützen.
Komorbide – begleitende Störungen
Unter Komorbidität versteht man das gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher voneinander abgrenzbarer körperlicher Erkrankungen und psychischer Störungen. Neben der Kernsymptomatik zeigen Personen im Autismus-Spektrum häufig eine große Zahl verschiedener Begleitsymptome. Zu den häufigsten Komorbiditäten gehören weitere Entwicklungsstörungen (z. B. motorische Störungen, Sprachstörungen, Intelligenzminderungen), neurologische (z. B. Epilepsien), somatische und genetische/chromosomale Erkrankungen und das gleichzeitige Vorliegen von psychiatrischen Symptomen, die nicht zur Kernproblematik von Autismus gehören, z. B. hyperkinetische Symptome, Angststörungen, depressive Verstimmungen (Noterdaeme, 2011).
Neuere Untersuchungen zeigen, dass ca. zwei Drittel der vom Autismus betroffenen Personen komorbide Symptome aufweisen. Am häufigsten finden sich hierbei spezifische Phobien, Zwangserkrankungen, ADHS sowie oppositionelle Störungen oder affektive Erkrankungen wie Depression (Kamp-Becker u. Bölte, 2011). Diese begleitenden Störungen können den Entwicklungsverlauf erheblich beeinträchtigen. Aus diesen Gründen ist es wichtig, dass auch komorbide Störungen erkannt und entsprechend behandelt werden.
Primärer und sekundärer Autismus
Bei den meisten Personen im Autismus-Spektrum spricht man von einem primären oder auch idiopathischen Autismus, d.h. dass eine direkte Ursache nicht bekannt ist (Tebartz v. Elst, 2016). Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl neuer Erkenntnisse hervorgebracht, auch wenn die Ursachen für Autismus-Spektrum immer noch nicht abschließend geklärt sind. Folgende Ursachen werden diskutiert:
1. Genetische Faktoren spielen eine erhebliche Rolle bei der Entstehung von Autismus, wie Zwillings- und Familienstudien oder auch molekulargenetische Befunde zeigen (Noterdaeme, 2009).
2. Die genetischen Faktoren können in Verbindung mit Umweltfaktoren wirksam sein. Risikofaktoren, die diskutiert werden sind:
- Ein erhöhtes mütterliches und väterliches Alter ist als Risikofaktor mehrfachbelegt worden
- Virusinfektionen in der Schwangerschaft wurden vielfach untersucht. Lediglich für die Rötelninfektion konnte bislang eine höhere Rate von Autismus-Spektrum nachgewiesen werden.
- Oft wird vermutet, dass Geburtskomplikationen eine Rolle in der Entstehung von ASS spielen. Meist sind aber bei Kindern mit einer genetischen Veränderung schwierige Geburtsverläufe die Folge dieser Veränderung und nicht die Ursache der Störung.
- Extrem Frühgeborene stellen eine Risikogruppe dar. Eine Studie bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1500 g bezifferte das Risiko, autistische Symptome zu entwickeln, mit 26 % (Limperopoulos et al. 2008). Eine weitere große englische Studie gibt ein um 65-fach erhöhtes Risiko für Autismus bei Frühgeborenen vor der 26. Schwangerschafts-woche an (Kuban et al. 2009).
Sekundärer Autismus
Der sogenannte sekundäre Autismus wird auch als syndromaler Autismus bezeichnet (Tebartz v. Elst, 2016). Hier lässt sich ein genetisches oder neurologisches Syndrom als Ursache des Autismus-Spektrums zuordnen. Dazu gehören z.B. das Fragile-X-Syndrom, die Tuberöse Sklerose, Angelmann-Syndrom und auch Infektionen mit Röteln. Laut Bölte (2010) liegt bei 6-25% der Autismus-Fälle ein solches Syndrom vor.
Der frühkindliche Autismus galt lange als eine sehr seltene Erkrankung. Die ersten Schätzungen lagen in den 60iger Jahren bei 4 Kindern auf 10.000 Geburten (Lotter, 1966). Diese ersten Studien zu Häufigkeiten machen nur Angaben zu Kindern mit frühkindlichem Autismus. Angaben zu Häufigkeiten anderer Aspekte des Autismus-Spektrums, besonders bezüglich des Asperger-Syndroms gibt es erst nach Einführung der DSM-IV bzw. ICD 10, in der die bisher gültige Unterteilung vorgenommen wurde. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte ist ein deutlicher Anstieg der Prävalenzraten für Störungen aus dem autistischen Spektrum festzustellen. Die stetige Zunahme der Prävalenz begann bereits vor der Jahrtausendwende. Gilberg zeigte in seiner Untersuchung von schwedischen Kindern im Alter von 7 Jahren eine Häufigkeit von 7%, das bedeutet bereits 7 von 100 Kindern gehören zum Autismus-Spektrum (Gilberg, 1983). Neuere Auswertungen von verschiedenen Studien zur Häufigkeit von Autismus-Spektrum gehen von einer Prävalenzrate bis zu 1% aus (Weintraub, 2011).
Wenig geändert hat sich an der Häufigkeitsverteilung Jungen zu Mädchen, die weiterhin bei 4-5 : 1 liegt. Allerdings besteht auch die Vermutung, dass Mädchen mit Asperger-Syndrom nicht oder sehr spät erkannt werden, da sie sich oft angepasster und weniger extravertiert verhalten.
Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei Autismus-Spektrum um keine seltenes Phänomen handelt und die höhere Prävalenzraten durch eine Veränderung in der Klassifikation und durch eine verbesserte und frühere Diagnostik zu erklären sind und vermutlich nicht durch eine tatsächliche Zunahme.
Autismus-Spektrum ist in den ersten Anzeichen als auch in Ausprägung und Intensität der Symptomatik vielfältig. Entsprechend vielfältig und variabel müssen die Angebote sein, die zur Unterstützung und Förderung herangezogen werden können.
Die Förderung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum in Pädagogik und Therapie werden vom Entwicklungsstand, von den individuellen Besonderheiten und Eigenheiten eines Kindes sowie von den Möglichkeiten und Bedürfnissen seiner Familie bestimmt. Erforderlich ist hierbei ein Blick auf die Kompetenzen und Stärken des Kindes und Jugendlichen. Dies hat aber auch noch eine große Bedeutung bei der Unterstützung von Erwachsenen.
Die Ziele der Förderung bestehen darin, die soziale und kommunikative Entwicklung autistischer Kinder und Jugendlicher zu unterstützen und ihre allgemeine Lern- und Problemlösefähigkeit zu fördern. Wenn es gelingt, Vorlieben von Kindern und Jugendlichen in die Förderung einzubauen, sind die Motivation und Aufmerksamkeit meist deutlich erhöht. Nicht alle Kinder aus dem Autismus-Spektrum verfügen über besondere Begabungen, haben aber häufig Bereiche, für die sie sich besonders interessieren. Viele Menschen aus dem autistischen Spektrum haben eine sehr detailgenaue Wahrnehmung und verwenden diese auch zum Lösen von Problemen, was manchmal ungewöhnliche Denkwege beinhaltet. Auch ist nicht selten ein sehr gutes Gedächtnis vorhanden mit einer starken Ausdauer beim Verfolgen von Inhalten, die für die jeweilige Person eine Bedeutung haben. Die Kommunikation ist häufig nicht sehr diplomatisch sondern sehr direkt und gradlinig, aber bezieht nicht immer die Perspektive des Gegenübers ein und wirkt oft verletzend. Daher ist eine pädagogische Hilfestellung zur Alltagsbewältigung notwendig.
Die kontinuierliche Eltern- und Familienarbeit stellt einen unverzichtbaren Schwerpunkt in der Unterstützung dar. Hilfen im Umgang mit den oft unverständlichen Verhaltensweisen der autistischen Familienmitglieder und in der konkreten Vermittlung von Ideen für den Alltag stärken die Ressourcen der Familie.
Selbsthilfegruppen können dem Prozess der Auseinandersetzung mit der Autismus-Thematik sowohl für Eltern und Familienangehörige als auch für Menschen aus dem Autismusspektrum hilfreich und unterstützend sein.
Literatur
- Al-Ghani, K. I.: Das rote Dings: Wie Kinder mit und ohne Asperger-Syndrom ihre Wut bezähmen können. Libellus. 2015.
- Attwood, Tony: Asperger-Syndrom. Das erfolgreiche Praxishandbuch für Eltern und Therapeuten. Trias Verlag. Stuttgart. 2010. 3.Auflage.
- Bernard-Opitz, V. / Häußler, A.: Praktische Hilfen für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Fördermaterialien für visuell Lernende. Kohlhammer Verlag. Stuttgart. 2010.
- Bölte, Sven: Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnostik, Intervention, Perspektiven. Huber Verlag. Bern. 2009.
- Brauns, Axel: Buntschatten und Fledermäuse. Leben in einer anderen Welt. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2002.
- Dawn Prince-Hughes: Heute singe ich mein Leben. Eine Autistin begreift sich und ihre Welt. Berlin: Ullstein-Verlag, 2004.
- Dobler, Tabea: Asperger-Syndrom – Infos und Tipps für Lehrpersonen. Kirja-Verlag. 2017.
- Dodd, Susan: Autismus – Was Betreuer und Eltern wissen müssen. Elsevier GmbH. München.2007.
- Ernsperger, L./ Stegen-Hanson T.: Probier doch mal! (Essstörung). Autismusverlag Schweiz. 2015.
- Girsberger, Thomas: So macht me das! Gebrauchsanweisungen für den Alltag. Kirja Verlag. 2015.
- Grandin, Temple: Ich bin die Anthropologin auf dem Mars. Mein Leben als Autistin. Droemer Knaur. 1997.
- Gray, Carol: Comic Strip Gespräche. Illustrierte Interaktionen – Wie man Schülern mit Autismus und ähnlichen Beeinträchtigungen Konversationsfähigkeiten vermitteln kann. Übersetzt ins Deutsche: Kind, Petra. Rastatt. 2011.
- Greenspan, St. I./ Wieder, S.: Mein Kind lernt anders. Ein Handbuch zur Begleitung förderbedürftiger Kinder. Walter Verlag. Zürich. 2001.
- Häußler, Anne: Der Teacch-Ansatz zur Förderung von Menschen mit Autismus. Einführung in Theorie und Praxis. Verlag Modernes Lernen. Dortmund. 2005. 2.Auflage.
- Häußler, A./ Tuckermann, A./ Kiwitt, M.: Praxis TEACCH: Wenn Verhalten zur Herausforderung wird. Borgmann Media. 2014.
- Janert, Sibylle: Autistischen Kindern Brücken bauen. Ein Elternratgeber. Ernst Reinhardt Verlag. München. 2003.
- Matthews, Joan / Williams, James: Ich bin besonders! Autismus und Asperger. Das Selbsthilfebuch für Kinder und ihre Eltern. Trias Verlag. Stuttgart. 2011. 2.Auflage.
- Noterdaeme, M. / Enders A.: Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Ein integratives Lehrbuch für die Praxis. Kohlhammer Verlag. Stuttgart. 2010.
- Preißmann, Christine: Asperger – Leben in zwei Welten. Trias Verlag. 2012.
- Preißmann, Christine: ...und dass jeden Tag Weihnachten wär. Wünsche und Gedanken einer jungen Frau mit Asperger-Syndrom. Weidler Verlag. Berlin. 2005.
- Scarpa, A./ Wells, A./ Attwood T.: Die Gefühle erforschen von Kindern mit hochfunktionalem Autismus oder Asperger-Syndrom: Das STAMP-Handbuch. Dgvt-Verlag. 2016.
- Schatz, Y. / Schellbach S.: Jemand so wie ich. Arbeitsmappe. Verlag Kleine Wege. Nordhausen. 2007.
- Schmidt, Peter: Ein Kaktus zum Valentinstag. Ein Autist und die Liebe. Patmos Verlag. 2012. 3.Auflage.
- Schmidt, Peter: Kein Anschluss unter diesem Kollegen. Ein Autist im Job. Patmos Verlag. 2014
- Schuster, Nicole: Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing. Das Asperger-Syndrom aus der Sicht einer Betroffenen. Weidler Buchverlag. Erlangen. 2007.
- Schreiter, Daniela: Schattenspringer. Wie es ist, anders zu sein. Panini Comics. 2014. 2.Auflage.
- Schreiter, Daniela: Schattenspringer 2. Per Anhalter durch die Pubertät. Panini Comics. 2015. 1. Auflage
- Seger, Britta: Paul mittendrin und doch allein. Autismus-Spektrum-Störung im Leben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Loeper Karsruhe. 2017.
- Seger, Britta: Was ist mit Tom? Geschichten zur Aufklärung über Autismus (Aspergersyndrom) in Kindergärten und Grundschule. Iris Kater Verlag. Viersen. 2011.
- Silberman, Steve: Geniale Störung. DuMont. 2016.
- Simone, Rudy: Aspergirls: Die Welt der Frauen und Mädchen mit Asperger. Belz Verlag. 2017.
- Solzbacher, Heike: Von der Dose bis zur Arbeitsmappe. Ideen und Anregungen für strukturierte Beschäftigungen in Anlehnung an den TEACCH-Ansatz. Borgmann Verlag. Dortmund. 2010.
- Tebartz van Elst, L. (Hrsg.): Das Asperger-Syndrom im Erwachsenenalter und andere hochfunktionale Autismus-Spektrum-Störungen. Medizinische Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin 2013
- Tebartz van Elst, L. Autismus und ADHS. Kohlhammer Vlg. Stuttgart 2016
- Vogeley, K. Anders sein Asperger-Syndrom und hochfunktionaler Autismus im Erwachsenenalter – ein Ratgeber. Beltz-Vlg. 2012
- Zimmermann, Antje: Ganzheitliche Wahrnehmungsförderung bei Kindern mit Entwicklungsproblemen. Möglichkeiten der sensorischen Integration – Ein Überblick. Verlag Modernes Lernen. Dortmund. 2009. 4.Auflage.
Internet
Quellenangaben:
- American Psychiatric Association – APA (2014) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5 ®: Deutsche Ausgabe herausgegeben von Peter Falkai und Hans-Ulrich Wittchen, Winfried Rief, Henning Saß und Michael Zaudig. Köln: Hogrefe
- „Autismus-Spektrum-Störung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“, interdisziplinäre S3-Leitlinie der DGKJP und DGPPN, 2016
- Bernard, Hans-Ulrich (2017) Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen - eine Spurensuche. Stuttgart: Kohlhammer
- Bölte, S. (2010) Diagnostik der Autismus-Spektrum-Störungen. In: H.C. Steinhausen & R. Gundelfinger (Hrsg.): Diagnose und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen. Stuttgart: Kohlhammer
- Freitag, C. (2010) Genetik autistischer Störungen. In: In: H.C. Steinhausen & R. Gundelfinger (Hrsg.): Diagnose und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen. Stuttgart: Kohlhammer
- Freitag, C. (2014) Autismus-Spektrum Störung nach DSM-5, Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie, 42, S. 185-192
- Gilberg,C. (1983)J. of Child Psychol. Psychiatry, 24 S.377 -403
- Kuban,K.C.K., O’Shea, T.M., Allred, E.N.,, Tager-Flusberg, H., Goldstein, D.J. & Leviton, A. (2009) Positive Screening on the Modified Checklist for Autism in Toddlers (M-CHAT) in Extremely Low Gestational Age Newborns, The Journal of Pediatrics, 154, S. 335 – 340
- Lehnhardt, F.G., Gawronski, A., Pfeiffer, K. Kockler, H.,Schilbach, L., Vogeley, K. (2013) Diagnostik und Differentialdiagnostik des Asperger-Sydroms im Erwachenenalter. Deutsches Ärzteblatt; 110 (45) 756-763
- Limperopoulos C, Bassan H, Sullivan N. et al. Positive screening for autism in ex-preterm infants: prevalence and risk factors. Pediatrics. 2008; 121 758-65
- Lotter, V. (1966) Epidimiology of Autistic Conditions in Young Children, Vol. 1, S. 124 – 137
- Kamp-Becker,I,; Bölte, S. (2011) Autismus. München Reinhardt-Vlg.
- Noterdaeme, M. (2011) Autismus-Spektrum-Störungen- ein Überblick zum aktuellen Forschungsstand, Klinische Pädiatrie 2
- Tebartz van Elst, L. (2016) Autismus und ADHS. Stuttgart. Kohlhammer
- Weintraub, (2011), Autism counts. Shifting diagnoses and heightened awareness explain only part of the apparent rise in autism. Scientists are struggling to explain the rest (Nature 479, S.22-24)
- World Health Organization - WHO (2015) Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision, German Modification, Version 2015. Köln: DIMDI